Sticky Fingers – Rolling Stones (1973 vs. 2020)

Sticky Fingers wurde in den Abbey Road Studios remastert und wiederveröffentlicht. Wie klingt die Neufasssung im Vergleich zu einem Exemplar aus den 70er Jahren?

Rolling Stones - Sticky Fingers, Deutschland 1973
Rolling Stones – Sticky Fingers, Deutschland 1973
Rolling Stones Sticky Fingers 2020
Rolling Stones – Sticky Fingers, Abbey Road Remaster 2020

Welche Versionen von Sticky Fingers vergleichen wir?

Sticky Fingers erschien 1971, unser Exemplar kam aber erst zwei Jahre später 1973 in den Handel. Unser gutes Stück von 1973 besitzt den berühmten echten Reißverschluss und das aufwendige Cover, wie es Andy Warhol gestaltet hatte. Mit tiefen Einblicken in die Hose bei geöffnetem Zipper. Es handelt sich um eine deutsche Pressung, die in Kooperation mit dem Magazin Twen (eine Art „Stern“ für junge Erwachsene) vertrieben wurde. Daher befindet sich auch ein Twen-Logo im Insert. Beim Vinyl wurde 1973, auf dem Höhepunkt der Ölkrise gespart: gerade mal 116 Gramm bringt unser Scheibchen auf die Waage.

Am Vinyl wurde bei der Neuauflage aus dem Jahr 2020 nicht gespart: 196g zeigte unsere Waage an. Gespart wurde stattdessen am Cover: Kein Reißverschluss, keine Perforation – nur ein schlichtes Single Sleeve. Die Platte wurde in den Abbey Road Studios im Half Speed Mastering-Verfahren vom Half-Speed-Master-Experten Miles Showell neu geschnitten.

Ein paar Hintergründe zu Sticky Fingers

Sticky Fingers erblickte im April 1971 das Licht der Welt. Es war das neunte Studioalbum der Stones und das erste auf dem eigenen Label Rolling Stones Records. Den Job des Produzenten übernahm einmal mehr Jimmy Miller, der beispielsweise auch bei Beggars Banquet, Let It Bleed oder Goats Head Soup an den Reglern saß. Der Rest ist bekannt. Sticky Fingers gilt nicht nur als eines der besten Alben der Stones, sondern als eines der besten aller Zeiten. Songs wie Brown Sugar oder Wild Horses sind Klassiker, die in allen wesentlichen Song-Bestenlisten auftauchen.

Wie gut klingen die 1973er- und die 2020er-Pressung von Sticky Fingers?

Der Start mit Brown Sugar besitzt auf der 1973er klanglich einen Hauch von Blechdose. Zu sehr konzentriert sich der Mix auf die Mitten. Die 2020er klingt hier etwas transparenter und auch erwachsener. Der Fokus auf die Mitten bleibt der 73er-Ausgabe auch bei weiteren Stücken erhalten. Doch bei Wild Horses verhilft diese EQ-Einstellung beispielsweise der Snaredrum zu mehr Punch.

Die Stereobühne zählt nicht gerade zu den Schokoladenseiten von Sticky Fingers. Sowohl die räumliche Staffelung als auch die Verteilung der Instrumente in der Breite gelingt eher mäßig gut. Und zwar bei beiden Pressungen.

Die Stärken sind einerseits die Rocknummern, die wie Bitch mit möglichst viel rohem Druck und direkt aus den Boxen den Hörer anspringen. Und die Balladen wie Wild Horses oder Moonlight Mile. Damit die nicht kitschig werden, dürfen auch die Streicher nicht zu glatt und poliert klingen. In dieser Disziplin kann erneut die 1973er glänzen. Der Blechdosensound, ihr erinnert euch.

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Wie unterscheiden sich Pegel und Dynamik der 1973er- und der 2020er-Pressung?

Wellenform-Diagramm für Brown Sugar
Wellenform-Diagramm für Brown Sugar

Das Wellenform-Diagramm für Brown Sugar zeigt nur geringe Unterschiede. Vor allem in linken Kanal (obere Hälfte der Welle) lassen sich Abweichungen zwischen den beiden Versionen erkennen. Während die Pegelspitzen (auch Transienten genannt) bei der 1973er ziemlich unregelmäßig enden, wirken sie in der 2020er-Version wie mit dem Lineal gezogen. Beim Remastering des 2020er-Masters wurden also per Limiter in der zweiten Hälfte des Songs die Spitzen abgeschnitten.

Wellenform-Diagramm für Bitch
Wellenform-Diagramm für Bitch

Im Wellenform-Diagramm für Bitch sehen wir das umgekehrte Bild. Hier wirkt die 1973er Version stärker komprimiert. Mehr Transienten erreichen das Limit des Pegelbegrenzers.

Wellenform-Diagramm für Sister Morphine
Wellenform-Diagramm für Sister Morphine

Auch im Wellenform-Diagramm für Sister Morphine lässt sich ein leicht erhöhter Pegel für die 1973er Version erkennen. Die 2020er-Fassung lässt etwas mehr Luft und bleibt meist unter der Schwelle des Limiters.

Wellenform-Diagramm für Wild Horses
Wellenform-Diagramm für Wild Horses

Und gar keine Unterschiede lassen sich aus dem Wellenform-Diagramm für Wild Horses herauslesen. Zusammenfassend kann man sagen: Die Unterschiede im Pegel und der Kompression sind überschaubar und selbst im konzentrierten A/B-Vergleich eher zu ahnen als zu hören.

Wie unterscheiden sich Lautheit und Dynamikumfang?

Unsere Messung der Lautheit mit dem Youlean Loudness Meter, einem Tool, das Toningenieure beim Abmischen und Mastern verwenden, ergab unterschiedliche Ergebnisse für Seite 1 und Seite 2 von Sticky Fingers.

Loudness-Messung für Seite 1 von Sticky Fingers
Loudness-Messung für Seite 1 von Sticky Fingers, D, 1973

Für Seite 1 stellten wir für die 1973er Pressung (oben) einen Lautheitswert von -23,3 LUFS integrated (Loudness Units relative to Full Scale) fest, bei der 2020er waren es -23,0 LUFS (unten). Höhere negative LUFS-Werte repräsentieren eine geringere Lautheit.

Loudness-Messung für Seite 1 von Sticky Fingers, 2020
Loudness-Messung für Seite 1 von Sticky Fingers, 2020

In den Diagrammen zeigt sich dies jeweils im unteren Bereich, dem Dynamikverlauf. Hier gilt: grüne Flächen sind eher leise, dunkelrote Flächen sehr laut. Je höher die Fläche an der jeweiligen Stelle im Stück ausfällt, desto mehr „Luft nach oben“ hat der Mix. Die 1973er-Pressung zeigt hier mehr und großflächigere grüne Passagen. Vor allem in den Titeln zwei und drei, also Wild Horses und Can’t You Hear Me Knocking wird der Unterschied deutlich. Ebenso im letzen Song You Gotta Move. Insgesamt hat also die 1973er auf Seite 1 den größeren Dynamikumfang.

Loudness-Messung für Seite 1 von Sticky Fingers, D, 1973
Loudness-Messung für Seite 2 von Sticky Fingers, D, 1973

Auf Seite 2 kehren sich die Verhältnisse um. Die 1973er ist mit -20,7 LUFS integrated gegenüber -24,0 LUFS integrated für die 2020er (unten) um durchschnittlich 3,3 LU – also etwa 3dB – lauter als die Neuauflage. Hier sind es die Stücke 1 und 4 von Seite 2, die auf der 1973er wesentlich lauter geraten sind. Also die Songs Bitch und Dead Flowers. Beide Songs bleiben auf der 1973er konstant über -10 LUFS und damit zu nahe am Maximum für Lautheit.

Loudness-Messung für Seite 2 von Sticky Fingers, 2020
Loudness-Messung für Seite 2 von Sticky Fingers, 2020

Wer mehr über Lautheit, Loudness und LUFS wissen möchte, kann in diesem Beitrag weiterlesen.

Wie unterscheiden sich die Frequenzgänge der 1973er- und der 2020er-Pressung?

Spektrogramm (lineare Skalierung) für Brown Sugar
Spektrogramm (lineare Skalierung) für Brown Sugar

Spektrogramme mit linearer Skalierung zeigen die Unterschiede im Höhenbereich besonders deutlich. Das Frequenz-Spektrogramm für Brown Sugar bildet für die 1973er-Version kaum noch Ausschläge oberhalb von etwa 14kHz ab. Bei der 2020er-Pressung ist hier mehr los. Im Mittelteil und auch im letzten Drittel des Stückes erkennen wir hier längere und auch kräftigere Ausschläge.

Spektrogramm (logarithmische Skalierung) für Brown Sugar
Spektrogramm (logarithmische Skalierung) für Brown Sugar

Eine logarithmische Skala verdeutlich dagegen Unterschiede in den Tiefen Frequenzen. Hier sehen wir an den größeren violetten Flächen den höheren Bassanteil der 2020er-Pressung.

Spektrogramm (lineare Skalierung) für Sister Morphine
Spektrogramm (lineare Skalierung) für Sister Morphine

Das umgekehrte Bild zeigt das Spektrogramm (linear) für Sister Morphine. Hier reichen die Ausschläge der 1973er erneut höher hinaus und sind auch kräftiger.

Spektrogramm (logarithmische Skalierung) für Sister Morphine
Spektrogramm (logarithmische Skalierung) für Sister Morphine

Anders als bei Brown Sugar lässt sich bei Sister Morphine kein gößerer Unterschied im Bass feststellen. Die violetten Flächen fallen in beiden Spektrogrammen ungefähr gleich groß aus.

Spektrogramm (lineare Skalierung) für Wild Horses
Spektrogramm (lineare Skalierung) für Wild Horses

Das Spektrogramm für Wild Horses präsentiert dagegen wieder klare Unterscheidungsmerkmale. Echte Höhen oberhalb von 13 kHz sind hier zwar in beiden Fällen Mangelware. Doch die 2020er hat im Bereich zwischen 5 und 12 KHz eindeutig mehr zu bieten.

Spektrogramm (logarithmische Skalierung) für Wild Horses
Spektrogramm (logarithmische Skalierung) für Wild Horses

Im Bass sind beide Versionen von Wild Horses jedoch wieder ungefähr gleich. Das Spektrogramm mit logarithmischer Skalierung offenbart hier keine schwerwiegenden Unterschiede.

Welche Pressung von Sticky Fingers ist besser?

Beginnen wir beim Cover: Sticky Fingers ist nur echt mit echtem Reißverschluss. Insofern geht die in den Abbey Road Studios remasterte 2020er mit einem großen Handicap ins Rennen. Hier fehlt der Zipper.

Auch klanglich hat am Ende die 1973er die Nase vorn. Salopp gesagt: Sie scheppert genau in dem Maße, wie es die Songs benötigen. Stattdessen versucht sich die 2020er an HiFi-Schönklang. In diesem Fall gibt es damit nichts zu gewinnen. Die Neufassung klingt fast schon steril. In Sachen Dynamik und Lautheit gibt es keine gravierenden Unterschiede und keine Pressung gibt sich eine echte Blöße. Am Ende hat die 2020er keine echten Vorteile gegenüber der 1973er zu bieten. Mein Urteil: Zipper rules.

Titelliste

Side 1

  • Brown Sugar
  • Sway
  • Wild Horses
  • Can’t You Hear Me Knocking
  • You Gotta Move

Side 2

  • Bitch
  • I Got The Blues
  • Sister Morphine
  • Dead Flowers
  • Moonlight Mile
Rolling Stones - Sticky Fingers, Deutschland 1973
Das Cover mit dem echten Reißverschluss ist …
Rolling Stones - Sticky Fingers, Deutschland 1973
Das Cover wurde gestaltet von Andy Warhol …
Rolling Stones - Sticky Fingers, Deutschland 1973
Dem original lag ein Insert bei, auf dem hier die Stones …
Rolling Stones - Sticky Fingers, Deutschland 1973
… zu sehen sind. „Twen“ war in den 70er Jahren ein Magazin.
Rolling Stones - Sticky Fingers, Deutschland 1973
Rolling Stones Sticky Fingers 73
Rolling Stones - Sticky Fingers, Deutschland 1973
Rolling Stones Sticky Fingers 73
Rolling Stones - Sticky Fingers, Abbey Road Remaster 2020
… auch heute noch ein echter Hingucker.
Rolling Stones Sticky Fingers 2020
… und hat auf der Rückseite nicht mehr viel zu bieten.
Rolling Stones - Sticky Fingers, Abbey Road Remaster 2020
Nicht Mick Jagger steckt in der Unterhose, sondern …
Rolling Stones - Sticky Fingers, Abbey Road Remaster 2020
… das Model Joe Dallesandro.
Rolling Stones - Sticky Fingers, Abbey Road Remaster 2020
Rolling Stones Sticky Fingers 2020
Rolling Stones - Sticky Fingers, Abbey Road Remaster 2020
Rolling Stones Sticky Fingers 2020
InterpretRolling Stones
TitelSticky Fingers
LabelRolling Stones RecordsRolling Stones Records
KatalognummerCOC 591000602508773143
Veröffentlicht19732020
Format12”12”
Umdrehungen/Minute33 1/333 1/3
CoverSingle SleeveSingle Sleeve
BeigabenInsertBedruckte Innehülle
Lackschnittk.A.Miles Showell
Presswerkk.A.MPO
Matrix-RunoutCOC-59100-A4 COC-59100-B3MPO®20 160479 stamped): 0602557974508 A2 MPO®20 160479 MILES.ABBEY ROAD ½ SPEED.RM30. MPO MPO®20 160480 stamped): 0602557974508 B2 MILES.ABBEY ROAD ½ SPEED.ROOM30 MPO®20 160480 MPO
Auflage/Limitierung
Fortlaufende Nummer
HerstellungslandDeutschlandFrankreich